Meine Flucht in die Fremde

Leah Shaw 1938Auf den Rat der Flatows habe ich dann noch einmal versucht den akademischen Weg zu beschreiten und habe die Waldschule Kaliski in Dahlem besucht. Dort fand der Unterricht in allen Fächern auf Englisch statt, und man konnte nach England fahren, um dort das Abitur abzulegen. Das wollte ich im Dezember 1938 tun.
Dann bekam ich aber plötzlich eine Gelegenheit nach Palästina auszuwandern. Eine Chance, auf die ich mit Sehnsucht, aber ohne wirkliche Hoffnung gewartet hatte. Während meine Familie noch davon überzeugt war, dass es nicht noch schlimmer werden würde und gegen meine Auswanderung war, sah ich in Deutschland eigentlich schon seit 1933 keine Perspektive mehr für mich. Wie viel schlimmer es noch werden würde, habe ich natürlich damals auch nicht gewusst, aber ich wollte weg aus diesem Land, in dem ich nur noch ein Mensch zweiter Klasse war.

So ergriff ich die Gelegenheit mittels einer Scheinehe mit einem Mitschüler auszuwandern. Sein Vater hatte schon vor Jahren ein so genanntes Kapitalistenzertifikat für die Einwanderung nach Palästina beantragt. Dafür brauchte man den Gegenwert von 1.000 britischen Pfund. Man zahlte das Geld hier in Deutschland ein, Deutschland lieferte dafür Waren nach Palästina, wir erhielten das Recht nach Palästina einzuwandern und bekamen dort das Geld in britischen Pfund wieder zurück. Das ging auf eine schon im Sommer 1933 geschlossene Abmachung zwischen den Nazis und der zionistischen Vereinigung Deutschlands zurück, das so genannte Haavara-Abkommen. Haavara ist hebräisch und heißt Transfer. Beide Seiten wollten, allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen, die Einwanderung nach Palästina befördern. Die Nazis wollten möglichst viele Juden loswerden, ans Umbringen dachten auch sie damals noch nicht, die zionistische Vereinigung wollte den Aufbau einer jüdischen Heimstätte in Palästina voranbringen. 1.000 Pfund war in jener Zeit eine ziemlich große Summe Geldes, die mein Mitschüler allein nicht aufbringen konnte, so habe ich mich daran beteiligt, da das Zertifikat auch für seine (mögliche) Ehefrau galt.
Wir haben also eine Scheinehe geschlossen, eine groteske Situation. Zwei junge Juden auf einem Berliner Standesamt, unter dem Bild Adolf Hitlers, unterschreiben mussten wir mit den gerade zuvor für alle Juden eingeführten Namenszusätzen, Sara und Israel. Dann konnten wir im September 1938 nach Palästina auswandern. Diese besondere Chance hatten aber nicht viele, denn nicht alle Juden waren reich. Überhaupt war das zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit noch Geld aus Deutschland mitzunehmen. Es gab ja schon seit 1933 für Juden die Reichsfluchtsteuer und nach den Novemberpogromen von 1938 wurde die Gesetzgebung so sehr verschärft, dass Juden kaum noch etwas besitzen und bei der Auswanderung gar nichts mehr mitnehmen durften.

Ich blieb einige Jahre in Palästina. Dort wurde aus dem Kosenamen Lia, den meine Mutter mir gegeben hatte, der jüdische Name Leah, den ich schließlich angenommen habe. 1944 habe ich einen englisch-jüdischen Soldaten geheiratet. Im Januar 1945 bin ich mit ihm nach England gegangen, wo ich bis heute lebe.