Shlomo Wolkowicz
Ein Zeitzeuge berichtet

Ein langes Leben lang schwieg er über seine Geschichte, zu schmerzlich war die Erinnerung; nicht erzählbar die Erlebnisse während der Jahre des zweiten Weltkrieges in seiner Heimat im polnischen Ostgalizien, der heutigen Ukraine.
Doch jetzt berichtet er. Legt vor etwa 50 Mädchen und Jungen der Theodor-Haubach-Oberschule Zeugnis ab, von dem was auch im besten Geschichtsunterricht so nicht erfahrbar sein kann. Shlomo Wolkowicz will Chronist sein, will seine Jugend den heutigen jungen Menschen schildern. Über zwei Stunden berichtet er von ausweglosen Situationen, von Mordaktionen, denen er entkam. In dem zum Hörsaal umgewandelten Biologieraum herrscht gespannte Aufmerksamkeit, kein noch so leises Flüstern unter den Jugendlichen stört seinen Vortrag. Sogar die Pausenklingel - sonst erwartetes Zeichen zum Aufbruch - wird ignoriert.

Am 1. Januar 1924 wurde Shlomo Wolkowicz als Kind jüdischer Eltern in dem polnischen Dorf Jagielnica geboren. Vor der deutschen Besetzung floh er zunächst nach Zlochow zu seinem Onkel. Doch auch diese Stadt wurde von den Nazis erobert. Fast noch am gleichen Tag befahl die SS sämtliche Juden in den Schlosshof des Ortes zu einem großen Massengrab. Dort mussten die Juden die Leichen der wohl von den Sowjets ermordeten Ukrainer wegschaffen. Dann begannen SS-Soldaten mit der Massenerschießung. Shlomo fiel unter die Toten und überlebte unter den zerschossenen Körpern seiner Leidensgefährten.
Plötzlich setzte ein schweres Gewitter ein, die SS verschwand. In der anbrechenden Nacht gelang es ihm unbeobachtet aus der Grube zu kriechen. Er bemerkt, wie noch drei andere Männer aus der Grube kommen. Auf dem Weg zurück werden die vier von einem deutschen Wachposten gestellt. Shlomo gelingt die Flucht durch die Dunkelheit. Er rennt nach Hause. Dort verursacht sein Erscheinen schieres Entsetzen. Seine Tante hatte doch gesehen, wie ihn die Schüsse in die Grube warfen.

Lange kann er bei seinem Onkel nicht bleiben, doch wohin soll er sich wenden? Er entscheidet sich für das Dorf Woroniak. Da dort überwiegend Ukrainer leben und diese auch wegen ihres Judenhasses teilweise mit den Deutschen zusammenarbeiten, glaubt er, dort würde man ihn am wenigsten vermuten. Unter falschem Namen findet er Aufnahme bei einer polnischen Familie und kann sich mit seiner Begabung für alles Technische nützlich machen. Doch dann kommen Gerüchte auf, er sei ein Jude. Erneut muss er fliehen.

Auf Drängen der Eltern kehrt er auf abenteuerlichen Wegen zurück in sein Heimatdorf Jagielnica. Fast in Sichtweite des Elternhauses greifen ihn ukrainische Polizisten auf. Wegen des Ausgehverbotes soll er Strafe zahlen, doch angeblich geht das nur auf dem Revier. Er wird mitgenommen.
In der Polizeiwache erkennt ihn ein ukrainischer Klassenkamerad und verrät ihn. Stunden lange Folterexzesse beginnen. Schließlich wirft man ihn in einen Kellerverschlag. Am nächsten Tag sollen die Misshandlungen weiter gehen. Doch dazu kommt es nicht. Mit fast übermenschlichem Lebens-willen gelingt ihm die Flucht. Aber damit beginnt erst sein Weg.

Eindrucksvoll schildert er den Mädchen und Jungen sein weiteres Leben in unterschiedlichen Verstecken. Und dann die Befreiung durch die Rote Armee. Erneut trifft er auf jenen Klassenkameraden, der ihn in der Polizeiwache verraten hatte. Jetzt könnte Shlomo diesen Menschen der Rache sowjetischer Offiziere überantworten. Er tut es nicht. Er bleibt seinen Grundsätzen treu, die dieser nie gehabt hatte.

Nach dem Kriegsende wanderte Shlomo Wolkowicz zuerst nach Österreich und 1949 nach Israel aus. Erfolgreich absolvierte er eine Ausbildung in Maschinenbautechnik und arbeitete als Geschäftsführer bei israelischen Firmen der Automobilbranche. Aber das ist schon nicht mehr Teil seines Vortrages.

Abschließend bleibt nur noch zu sagen, dass sich fast so etwas wie eine Freundschaft zwischen den Zehntklässlern und dem fast Achtzigjährigen - von den Schülern liebevoll nur Shlomo genannt - entwickelte. Eine ganze Woche haben sie ihn begleitet. Sie holten ihn vom Flughafen ab, als er spätabends aus Haifa kommend in Tegel landete und waren bei allen seinen Vorträgen dabei. Und immer waren es junge Leute, denen er als Zeuge einer kaum vorstellbaren Vergangenheit lebendigen Geschichtsunterricht erteilte.

Hans-Wolf Ebert