Erinnerung realisiert sich vor allem an Orten

Ich wandle im gleißenden Sonnenlicht durch das mittagsträge Wilmersdorf, schaue gedankenversunken auf die von Hitze nur so flirrenden kleinen Straßen; mein Blick streift flüchtig ein Schild --- einmal, zweimal ... ich stutze. SEEBERGSTEIG steht da in großen, schwarzen Lettern zu lesen.
Jener Seeberg etwa, der schon vor dem 1.Weltkrieg für ein Großdeutschland eintrat, mit nationalistischen Romanen Aufsehen erregte und erklärter Antisemit war? Ja, jenem Menschen ist zur Zeit des Nationalsozialismus in Form dieser Straße ein Denkmal gesetzt worden...
Obwohl im Jahr 1994 SPD und Grüne die Umbenennung in Walter-Benjamin-Straße beschlossen hatten, wurde dies nur zwei Jahre später durch die CDU annulliert und so besteht die Erinnerung an Seeberg nun mehr bis auf weiteres auf jenem Straßenschild in Wilmersdorf fort.

Was denkt man als einer der wenigen Überlebenden, wenn man auf so ein Schild trifft? Erinnerung realisiert sich vor allem an Orten...


Wir als Jugendgeschichtswerkstatt haben es uns mit diesem Projekt zur Aufgabe gemacht, über die Entstehungsgeschichte einiger Straßennamen Berlins zu berichten, um auf bestehende Missstände diesbezüglich aufmerksam zu machen, zum Hinterfragen auch zunächst legitim erscheinender Straßennamen zu sensibilisieren, und vielleicht sogar als Katalysator für neue Umbenennungsprojekte zu dienen.

Das oben genannte Beispiel ist nur eines von vielen, das an der Ignoranz und Bequemlichkeit eines beträchtlichenTeils der Anwohnerschaft und einer rechtsgerichteten Vertretung, gegen die sich die Verfechter der Umbenennung meist nur schwerlich durchsetzen konnten und können, scheiterte.

So wurde eine 1936 von Hitler persönlich in REICHSSPORTFELDSTRAßE benannte Straße in Charlottenburg erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen einer Initiative zur Umbenennung sowie der CDU und einem rechten Bürgerbund in FLATOWSTRAßE umbenannt - nach zwei jüdischen Sportlern, die die Judenvernichtung des Dritten Reiches nicht überlebt haben.

Der Garbáty-Familie aus Pankow wurde nach endlosem Gerangel mit einem kleinen Platz am Bahnhof gedacht. Eigentlich sollte auf Wunsch einer Initiative eine zentrale Straße nach der Familie benannt werden, da die Republikaner auf einem Teil des ehemaligen Garbáty-Anwesens "Stellung" bezogen hatten, aber nach ewigen Streitigkeiten mit den Pankower Bürgern wurde die Familie mit jenem kleinen Platz geehrt.

Die größte Gegenwehr kam stets von der konservativen und/oder rechten politischen Seite, wie von der bereits erwähnten CDU, die 1996 per Bürgerentscheid zu verhindern suchte, daß der RATHAUSVORPLATZ in Tiergarten nach Matilde Jakob, einer jüdischen Sozialistin und engen Mitarbeiterin von Rosa Luxemburg, umbenannt wurde. Wegen mangelnden Interesses der Anwohner scheiterte das Vorhaben.

Es ist erstaunlich, wie offensichtlich und ohne Scham konservative und rechte Kräfte gegen die Ehrung von jüdische Widerstandskämpfern, Antifaschisten, Sportlern etc. nur, weil sie Juden waren, mobil machen, und wie offen der Antisemitismus hier zu Tage tritt. Bereits 1988 schrieb Jürgen Karwelat, ein Mitarbeiter der Berlin Geschichtswerkstatt: "In Berlin, wie nirgendwo sonst in Deutschland, finden sich bis heute im Straßenbild so viele Elemente ruhmloser deutscher Vergangenheit: Militarismus, Kolonialismus, Antisemitismus."
Die eingangs beschriebenen Auseinandersetzungen um Straßennamen stammen aus der jüngsten Zeit - und gerade deshalb gilt es, sich über jenes Problem zu informieren, zu reden und schließlich etwas zu ändern, damit ein Spaziergang durch die Straßen Berlins irgendwann nicht mehr mit dem Gefühl tiefer Resigantion und ohnmächtiger Wut enden muss.